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Zentrales Besprechungsorgan von keinVerlag.de Ausgabe 346/2023 - Fr., 22. Sep 2023
Ein Hauch von Ewigkeit
Szczepan Twardoch: Drach. Roman, übersetzt von Olaf Kühn. Hamburg (Rowohlt), 2016 - Eine Rezension von Quoth

Bibliografische Daten:
Verlag: Rowohlt
Ort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2016
Preis: 14,00 Euro
ISBN: 9783499271748

Der Roman schildert rund hundert Jahre und vier Generationen der Familien Magnor und Gemander im deutsch-polnischen Bergbaugebiet von Oberschlesien, und nicht die Ereignisse von Liebe und Tod, Verbrechen und Sühne, Weltkriegen und Nachkriegszeiten, Liebe und Hass sind das Besondere dieses Buches, sondern die vom Autor gewählte Erzählerin, die Erde, vor deren Ewigkeitsauge alles bedeutend und unbedeutend zugleich ist und Vergangenheit und Zukunft in eine einzige, machtvolle Gegenwart jenseits aller Chronologie verschmelzen.
Pindur schweigt. Pindur ist mir nah. Er packt Josef am Handgelenk, fest, als wollte er ihm etwas Wichtiges sagen, etwas von großer Bedeutung, sagt aber nichts, denn nichts hat Bedeutung.
Ich müsste erläutern, wer Pindur ist. Wer oder was da „mir“ sagt. Aber ich erläutere nur, dass Josef Magnor der Protagonist eines polnischen Romans ist mit dem Titel „Drach“, der wie ein Unwetter über den Leser hereinbricht. Der im Präsens erzählt ist, egal, ob es um Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft geht. Es gibt nur Gegenwart, über der ein Hauch von Ewigkeit liegt, in diesem Buch, obgleich über den einzelnen Kapiteln jeweils bis zu 29 Jahreszahlen stehen, in denen die Erzählerin sich bewegt. Eine Frau? Ist der Autor Szczepan Twardoch denn nicht ein Mann? Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Aber er wählt sich eine fiktive Erzählerin: die Erde. Und zwar weniger den Planeten (obgleich ein wenig auch den), mehr aber die Erdkruste, in der wir unsere Toten begraben, in der wir Schutz suchen in Schützengräben und in die der Bergbau seine Schächte und Stollen treibt, in denen „Menschenwürmer die schwarze Sonne aus meinem Leib kratzen“, d.h. Steinkohle schürfen. Und alle Männer in diesem Buch (bis auf wenige Ausnahmen) sind Bergleute. Und das seit Generationen. Bergleute im Bergbaugebiet von Oberschlesien, in dem die einen Deutsch, die anderen Polnisch sprechen, aber manche Polnisch Sprechende sind Deutsche und manche Deutsch Sprechende Polen. Und manche sprechen ein Pidgin-Deutsch oder Pidgin-Polnisch, und das wird Släsch oder Slaski oder Wasserpolnisch genannt (der Übersetzer Olaf Kühn hat Kostproben davon dankenswerter Weise ins besser verständliche Niederschlesisch übertragen). Und nach dem Ersten Weltkrieg, an dem Josef Magnor im Schützengraben vor Verdun teilnimmt, sollen Teile von Oberschlesien laut Versailler Vertrag an Polen abgetreten werden. Es kommt zu Erhebungen der Polen, die nicht benachteiligt werden wollen, zu Morden und Gewalttaten.

Ich will nicht versuchen, den Inhalt von „Drach“ (vier Generationen der Familien Magnor und Gemander) wiederzugeben, und den Roman zu bewerten. Seit sieben Jahren ist seine deutsche Ausgabe auf dem Markt, er wurde als meisterlich gelobt und auch viel über den Inhalt gesagt. Ich wollte herausbekommen, wie es dem Autor gelungen ist, seine Setzung, dass nicht er, sondern die Erde erzählt, glaubwürdig zu machen, und habe dafür die Suchfunktion meines E-Readers zur Hilfe genommen. Mit ihrer Hilfe habe ich festgestellt, dass die oben zitierte Figur, etwas sei von Bedeutung, zugleich aber ohne jede Bedeutung, sich an die 30mal in dem Buch findet. Eine andere Erdformel: sie sagt: "Zur gleichen Zeit", fährt aber dann fort: "nur dreiundneunzig Jahre früher" oder "fünfunddreißig Jahre später". Diese Formel verwendet die Erde 50 mal und erzeugt so ein Gefühl von Zeit jenseits der Chronologie, berechtigt, wenn man bedenkt, wie winzig die Zeitabschnitte sind, in denen wir verkehren, vergleicht man sie mit dem Alter des Planeten. Und das auf dem Hintergrund der Botschaft des alten Pindur, dass Baum und Mensch und Stein und Tier dasselbige sind und dass die verwesenden Leichen als Saft in den Bäumen wieder aufsteigen, deren Blätter und Rinde die Rehe fressen, die dann ihrerseits sterben, wenn sie nicht geschossen und verzehrt und zu Ausscheidung werden, die wiederum der Erde zugutekommt, in Verbindung mit diesem ewigen Stoffwechsel von Werden und Vergehen, dessen Vermittlerin die erzählende Erde ist, verliert alles Bedeutsame wirklich jede Bedeutung, aller Tod ist nur ein Übergang wie auch alles Leben, und den Generationen von Bergleuten stehen Generationen von Rehen und Bäumen gegenüber. Es gelingt diesem Roman, ein Gefühl von tiefer, staunender Naturhörigkeit zu erzeugen. Nicht ohne Grund wird die Botschaft Pindurs als Evangelium bezeichnet, aber zugleich hervorgehoben, dass dieses Evangelium aus einer Zeit stammt, als noch keine Christen im Land waren, und das Kriegskapitel wird eingeleitet von der Schilderung des ungeheuerlichen Behemoth im Buch Hiob. Es ist ein ebenso beunruhigendes wie tröstliches Buch, eine aufwühlende Summe des 20. Jahrhunderts im Spiegel der polnisch-deutschen Welt Oberschlesiens, in der ein Ort bald Gliwice  heißt, bald Gleiwitz – ein bedeutsamer Unterschied – und dennoch ohne jede Bedeutung.
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