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Zentrales Besprechungsorgan von keinVerlag.de Ausgabe 279/2012 - Do., 31. Mai 2012
Ein großer Wurf deutscher Dichtung
Ricinski, Francisca: Auf silikonweichen Pfoten. Wundprotokolle. Ludwigsburg (Pop Verlag), 2005 - Eine Rezension von Bergmann

Bibliografische Daten:
Verlag: Pop Verlag
Ort: Ludwigsburg
Erscheinungsjahr: 2005
Preis: 13,80 Euro
ISBN: 3937139125

Kleine Geschichten, Gedanken, innere Monologe, Reflexionen zum Thema Heimat, Entwurzelung, Entfremdung, Liebe und Wirklichkeitsbewältigung.
Die „Wundprotokolle“ sind für mich ein großer Wurf deutscher Dichtung dieser Jahre! Die Sprache fließt leicht und abwechslungsreich, spielt mit den literarischen Gattungen (von der Kurzgeschichte über die Parabel bis zur visuellen Poesie), mit Erzählperspektiven, Bildern und idiomatischen Wendungen derart souverän und neuartig, dass es eine Lust ist, die schweren Gedanken und Stimmungen im Wechsel mit leichteren mentalen Zuständen zu lesen – der nachdenkliche Leser verlängert oder interpretiert die parabolischen Erzählungen mit subtilem Erkenntnisgewinn: Der Schmerz, in den Entfremdungen des Lebens, die uns alle treffen, Heimat suchen und finden zu müssen, egal wo und wer wir sind, wird hier in großer und ganz eigener Sprachkunst sublimiert, vielleicht erträglicher gemacht, also ganz dialektisch aufgehoben auf einer höheren Ebene des Verstehens. Ich habe in den letzten Jahren nichts Besseres in dieser Art gelesen.

Zimmerdekor
links die blaue tapete ein trugbild des himmels benetzt vom heißen zur wand gedrehten betenden mund. wiederkäuende worte. mundhauch zum dunst des hirns. imaginäre ikonen im verputz und in den darauf geklebten papierstreifen. eine letzte mücke sucht nach meinem blut. sie ahnt dass sie auf dem tapezierten himmel nicht zerquetscht wird ...

Die weitere Inventur des Seelenzimmers führt zu desillusionierenden Erkenntnissen, die bis an die Verspürung der Selbstentfremdung gelangen:

hinter mir die illusion von weißen blüten fallend auf den teppich. mein vater in einer vase. über mir niemand und niemand an der tür noch nicht mal ich
[Auf silikonweichen Pfoten, S. 25]

Nicht an der Tür, aber Im leeren Nachtzug - als ihr eigenes Gegenüber - ist sie noch zu finden:

Du sitzt in einem leeren Nachtzug und freust dich zu reisen in das Land, das es nirgends gab und nirgendwo gibt, dort auf der Bühne in einem Stück zu spielen, das niemand bisher schrieb, und hinter der Bühne mit einem Mann zu schlafen, den keine Mutter bisher geboren hat.
Und nachts - falls es dort nachtet - in das Meer zu schwimmen das keine Ufer kennt.
Der Zug ist mit Lok und Waggons, hat aber noch keine Räder.
[Zug ohne Räder, S. 172]

Der Nachtzug ist leer – ein Hauch von Utopie, Andeutungen auf die ersehnte ‚Reise’ nach einem ungeborenen, noch nie da gewesenen, nur für das erzählende Ich enthüllenden Etwas, vielleicht sogar auf eine Rückkehr ins Nichts.

Ich habe „Auf silikonweichen Pfoten“ und „Zug ohne Räder“ wieder und wieder gelesen und bin überrascht, wie frisch und gültig die Poesie wirkt. Ich bleibe bei meinem Urteil, das ich bei Erscheinen der Bücher formulierte: Es sind zwei der besten Bücher, die seit Aglaya Veteranyi geschrieben wurden.

Francisca Ricinskis poetische oder lyrische Prosa geht mir nah. Auch ich erlebte Entwurzelung; ich litt als Kind und Jugendlicher unter dem Verlust meiner Heimat an der Saale und der Trennung von meiner Mutter, von der mich der Kalte Krieg und die Mauer, die Deutschland zerschnitt, bis zu meinem 45. Lebensjahr trennte und entfremdete.
Die Texte der aus Rumänien stammenden Dichterin, die gegenüber dem Siebengebirge am Rhein lebt, faszinieren mich mit ihren Schreibideen, den packenden Bildern und Formen. Sie erinnern mich an meine Wurzeln und sie zeigen mir, wie brüchig und schwankend der Boden ist, auf dem ich stand wie auf einer Tellermine, auf der ich schreibend wohne wie ein kleiner Sisyphos, der Buchstaben schiebt – wie Francisca.

Bonn, 30.5.2012
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