Bibliografische Daten:
Verlag: Mosquito Verlag Ltd & Co KG
Ort: Immenstadt
Erscheinungsjahr: 2011
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 3928963643
Ein anonymer Autor gibt an, ein Jahrhunderte altes Geheimnis der Alchemie gelüftet zu haben: die Rezeptur zur Herstellung des Steins der Weisen. In seinem Werk beschreibt er neben der Prozedur selbst die Prinzipien der Alchemie und gibt einen Überblick über die geheimnisvolle Zunft und ihre Vertreter.
Sackzement! Mich juckt es unter den Fingern! Am liebsten würde ich dieses Buch gleich jedem schenken, der auch nur ansatzweise geneigt ist, es zu lesen und zu beherzigen. Bloß, wie bringt man ein Wahnsinnsthema wie dieses unter das gewöhnliche Volk?
Aber von vorne:
Ein anonymer Autor tritt aus dem Schatten der Jahrtausende alten Dunstkreise der Alchemie und präsentiert nicht weniger, als DAS Kernelement der gesamten Zunft: ein Rezept zur Herstellung des Steins der Weisen. Doch es kommt noch besser: Fast beiläufig erklärt er mir, dem geneigten Leser, in gut verständlichen Worten die Essenz, die Philosophie, die Prinzipien und die Wirkweisen der alchemischen Wissenschaften und vermittelt anhand zahlreicher Originalzitate Einblick in den Schriftkörper alchemistischer Publikationen aus den letzten tausend Jahren ... und das Allerbeste: Das große Arkanum der ehrwürdigen Alchemistenzunft, die Herstellung des legendären Steins, ist geradezu pipieinfach! Naja, um ein Vielfaches leichter zumindest, als ich es mir vorgestellt hätte. Und tatsächlich leicht genug, dass selbst ich (zu Schulzeiten ein ewiger Fünferkandidat in Chemie) etwas damit anfangen kann. Auch die zur Herstellung des Steins nötigen Gerätschaften sind einigermaßen erschwinglich, und so verwundert es nicht, dass nun eine neue Welle alchemischer Experimentierfreudigkeit um den Erdball wabert.
Natürlich ist die Frage angebracht, warum ich einem anonymen, dahergelaufenen Autoren glauben soll, der mir erzählt, er wäre der erste, der mir statt weiteren leeren Versprechungen und hohlem Gerede nun wirklich sagt, was Sache ist. OK, der Autor hat sein Werk (auf Englisch) gemeinfrei ins Netz gestellt und verdient keinen Cent daran - das macht die Sache schon mal interessant. Auch interessant: Die Begeisterung für das Buch kommt nicht aus den Riegen der üblich verdächtigen Esoeckenbelagerer der nach Copal müffelnden Buchhandlung von um die Ecke, sonder, und jetzt halten Sie sich fest, zu einem großen Teil von echten Alchemisten! Und wer vor seinem Erscheinen noch keiner war, der wurde es eben: Schon bald, nachdem das englische Original im Internet seine Runden gemacht hatte, waren Wiederverkäufer entsprechenden alchemistischen Laborbedarfs in den USA restlos ausverkauft und die Produzenten steckten bis zum Kolben in Lieferschwierigkeiten.
Trotz alledem muss ich gestehen, dass mir das Buch anfangs auch gehörig suspekt war. (Gehörig wohl deswegen, weil die Versprechungen des Autors nicht ohne Weiteres konform mit meinen kulturell angelernten Prämissen von Hui und Pfui gingen.) Ich las es also, zunächst auf Englisch, prüfte es auf Herz und Nieren(stein), versuchte mich für auch nur den leisesten Hauch des möglichen Betrugs zu sensibilisieren - doch fand ihn nicht. Schließlich gab sich meine Skepsis größtenteils geschlagen. Der Autor überzeugte mich mit seiner geradlinigen Argumentation, verständlichen Erklärungen und einer angenehm hemdsärmeligen Wortwahl von seiner Redlichkeit.
Mit wachsendem Interesse beobachtete ich gleichzeitig, wie auch Menschen in meinem Umfeld anfingen, den sagenumwobenen Stein zu brauen. Schließlich liegt der beste Indikator für die Authentizität der beschriebenen Prozedur auf der Hand: der erfolgreich „gekochte“ Stein.
Apropos Stein. Für den Fall, dass Sie nicht wissen, wovon ich hier eigentlich spreche: Der Stein der Weisen ist das höchste Ziel der alchemischen Praxis. Alchemie bedeutet, die Abläufe der Natur zu kopieren und unter Optimalbedingungen zu beschleunigen. (Sorry, Potter-Fans: kein Hokuspokus!) Der Stein der Weisen ist also die Quintessenz der naturgegebenen Schöpfung, wenn man so will. In seiner vollendeten Stufe vermag er jegliche Krankheiten zu heilen, den Körper mit allem zu versorgen, was er braucht, kann bis zu einem gewissen Grade sogar Tote zurück an unsere Seite des Ufers schiffen und - nebenbei - unedele Metalle in Gold verwandeln. Aber wer braucht bitteschön Gold? Die anderen Vorzüge finde ich persönlich reizvoller.
Das glauben Sie alles nicht? Naja, das kann ich Ihnen nun wirklich nicht verübeln. Scheinbar glaubten aber viele große Geister vor Ihnen daran, Männer wie Francis und Roger Bacon, Petrus Bonus, Nicolas Flamel (ja und verdammt noch eins, den Mann gab es bereits lange vor der Erfindung des Harry Potter), Fulcanelli, Albertus Magnus, Theophrastus B. v. Hohenheim (alias Paracelsus), William Shakespeare (sofern es diesen jemals in der Gestalt gab, wie wir ihn kennen), Alexander von Suchten, ... die Liste ist lang und ihre Platzhalter werden im Buch Aquarius ausführlich zitiert.
Was unseren anonymen Autor von den oben genannten unterscheidet: Er macht keinen Hehl um sein Wissen. Er schreibt weder in Rätseln, noch lässt er die Katze so lange hinter'm Ofen, bis sie schwarz wird, und schon gar nicht plustert er sich auf und gibt sich als Hüter des Drachenschatzes. Ein sympathogener Marketing-Trick? Schon möglich - aber eigentlich vertane Liebesmüh für einen, der nichts zu vermarkten hat.
Das englischsprachige Buch entwickelte sich zum Downloadhit auf der Hosting-Seite forgottenbooks.org. In einem eigens dafür geschaffenen Forum tauschten und tauschen sich die Experimentatoren der neuen Alchemiewelle aus, dokumentier(t)en ihre Ergebnisse und hatten und haben dort die Möglichkeit, mit dem Autor selbst in Dialog zu treten. Die Sache kam also gehörig ins Rollen.
Vor etwa zwei Monaten kündigte ein deutscher Verlag an, das Buch in unsere schöne Sprache zu übertragen. Da Mitteleuropa und vor allem Deutschland die letzte bekannte Hochburg der Alchemie war (im Heidelberger Schloss ist das letzte funktionsfähige Alchemielaboratorium untergebracht), bot sich das schließlich auch an.
Gestern dann hatte ich es endlich in der Hand: das Buch Aquarius. Auf Deutsch. Wow. Im Internet gibt der Verlag an, man habe sich mit der Gestaltung besondere Mühe gegeben, da man im Gefühl habe, das Buch würde sich zu einem Klassiker entwickeln. Ich will nicht lügen, aber irgendwie habe ich im Urin, dass das stimmen könnte. Und auch wenn ich nun wirklich kein Augenmensch bin: Ja, es sieht von innen und von außen doch ganz schön aus.
Aber viel wichtiger ist natürlich der Inhalt: Zu meiner Zufriedenheit leisteten die Übersetzer trotz des sehr knappen Zeitfensters sehr gute Arbeit; der Autor liest sich auch im Deutschen wie geklärte, flüssige Butter und es ist schön, dass sich mir nun auch die alten verschachtelten Zitate in voller Gänze erschließen, die aus den Reihen der oben erwähnten Kollegen des Autors stammen. Besonders bei deren Übertragung gebührt den Übersetzern ein großes Lob.
Wer sich selbst einen Eindruck vom Inhalt des Buchs machen möchte, findet auf der Website des Verlags ein kostenloses PDF mit den ersten 80-90 Seiten zum Herunterladen. Kein Hundefreund muss also Sorge tragen, die Katze im Sack zu kaufen. Nebenbei: Wenn das Experiment glückt, dann wird das Wort „kaufen“ ohnehin an Bedeutung verlieren ...: „Bye bye Aktienmarkt, bye bye Banken, bye bye Geschäftsleben, bye bye Zivilisation“, schreibt der Autor, und der deutsche Verleger legt noch einen drauf, wenn er im Klappentext von einer Prophezeiung berichtet, die „besagt, dass der Stein kurz vor dem Ende unserer Epoche wieder in die Welt kommen wird, um ein neues Zeitalter einzuläuten.“
Verstehen sie mich nicht falsch, ich bin weiß Gott kein messianischer Endzeitprediger. Ich nehme das zur Kenntnis, habe im Hinterkopf, dass das schon viele behauptet haben und dass andererseits auch schon viele Epochen zu Ende gingen - mehr oder weniger schmerzhaft. Aber insgesamt ist das, was der Autor hier anbietet, ein Novum. In Sachen Alchemie wurde meines Wissens nach nie so viel Klartext gesprochen wie jetzt, wo wir uns langsam aber sicher auf die nächste Zeitenwende zubewegen. Zeitenwende? Na, gucken Sie mal in den Himmel. Sie werden es nicht merken, aber es stimmt tatsächlich: Die Präzession schaukelt uns langsam heraus aus den Pfuhlen der Fische (Pisces) und hinein in Weiher des Wassermanns (Aquarius). Auf ein paar hundert Jahre kommt es wohl nicht an - zumindest für dieses Buch ist seine Zeit gekommen.
So oder so, und komme, was und wie es wolle: Für mich ist das Buch Aquarius das mit Abstand interessanteste und gewinnbringendste Buch dieses Jahres - mindestens. Wenn ich mir einen Appell erlauben dürfte, dann wäre es dieser: Geben Sie diesem Werk eine Chance. Es könnte sein, dass Sie sich und den Menschen um Sie herum damit einen großen Gefallen tun. Aber urteilen Sie bitte selbst - vermutlich liegt nichts dem Autor ferner, als seine Leser zu bevormunden. Lassen Sie es sich also schmecken. Sie meinen, das schmeckt Ihnen sowieso nicht? Na, hören Sie mal: „Urteilen Sie bitte über dieses Buch nicht, bevor Sie es gelesen haben. Dies ist keines jener seichten Esoterik-Bücher, in dem Seiten über Seiten mit sinnlosen Sätzen gefüllt werden. Dieses Buch wird mehr Sinn machen als alles, was Sie bisher gelesen haben.“ - Anonymous
Ich könnte so viel mehr schreiben, denn meine Finger jucken noch immer, doch schließe nun ab mit einem kleinen Tipp für die Praxis: Seien sie nicht angepisst, wenn Ihre ersten alchemischen Versuche ins Wasser fallen. Übung macht den Meister!