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Zentrales Besprechungsorgan von keinVerlag.de Ausgabe 256/2010 - Fr., 10. Sep 2010
Unser Selbst entzieht sich quasi jeder Hilfe
Percy, Walker: Lost in the Cosmos. The last self-help book. USA, New York (Picador), 2000 - Eine Rezension von Rudolf

Bibliografische Daten:
Verlag: Picador
Ort: USA, New York
Erscheinungsjahr: 2000
Preis: 12,99 Euro
ISBN: 0312253990

Obwohl der Mensch das Wissen über Alles im Universum in rasantem Maße ausweitet, gibt es seit Anbeginn der Menschheit einen blinden Fleck, der sich seiner Erkenntnis entzieht, egal aus welchem Blickwinkel der Mensch sich ihm nähert – sein Selbst. Dies ist die These, die Walker Percy in seinem Buch „Lost in the Cosmos“ vertritt. Er legt sogar noch nach und behauptet, je mehr der Mensch die Grenzen seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse ausdehnt, um so fremder wird er sich selbst. Auf 262 Seiten sammelt der Autor auf unterhaltsame Weise Argumente, die seine These belegen. Indem er den Stoff in einen Multiple-Choice-Selbsttest verpackt, gelingt es ihm, die Leserin eng in seine Überlegungen einzubeziehen. Das Buch wurde im Jahr 1983 erstmals veröffentlicht. Der Rezension liegt die Ausgabe aus dem Jahr 2000 zugrunde, die im Picador Verlag als Taschenbuch erschien.
Walker Percys Buch "Lost in the Cosmos" ist laut Autor das ultimative Selbsthilfebuch. Der Leserin* wird versprochen, dass sie nach dem Studium dieses Buches, nie wieder ein anderes Selbsthilfebuch benötigt. Dass seit der ersten Veröffentlichung von "Lost in the Cosmos" am Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die Serie der Selbsthilfebücher nicht abriss, liegt nicht am Autor. Ihm gelingt es, sehr überzeugend darzustellen, dass für unser Selbst keine Hilfe möglich ist. Unser Selbst entzieht sich quasi jeder Hilfe, ist überall und nirgends - ganz bestimmt aber nicht da, wo wir es vermuten. Jedes weitere psychologisierende Buch, das der Käuferin Lebenshilfe durch Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis verspricht, wird überflüssig.

Walker Percy trägt Erkenntnisse aus Natur- und Geisteswissenschaften zusammen, um sich unserem Selbst zu nähern. In Gedanken­experimenten lässt er Figuren aus der Vergangenheit auftreten, lässt Raumschiffe in der Zukunft zu fremden Welten reisen, wo die Erdlinge auf außerirdische Intelligenz treffen oder auch nicht, letzteres hieße, dass wir Menschen einzigartig und allein im Kosmos sind und auf ewig bleiben. Wieder und wieder stellt Walker Percy auf humorvolle Weise verblüffende Zusammenhänge her, die das Buch kurzweilig machen und dazu veranlassen, schon während des ersten Lesens noch einmal zurückzublättern und zu prüfen, ob man eine Idee richtig verstanden hat. Das Zurückblättern wird erleichtert durch eine klare Gliederung des Stoffes, zu der allerdings das Inhaltsverzeichnis fehlt.

Der Einstieg in das Buch ist extrem niedrigschwellig. Es startet mit zwei Seiten alternativer Titel: Beispielsweise "Wie man in einem Kosmos überleben kann, über den man immer mehr weiß, während man über sich selbst trotz 10.000 Selbsthilfebüchern, 100.000 Psychotherapeuten und 100 Millionen fundamentalistischen Christen immer weniger weiß". Die Mischung aus Witz und Tiefsinn zwingt weiter zu lesen und die Leserin landet in einem vorläufigen Kurzquiz mit sechs Fragen, der dazu gedacht ist, bereits im Buchladen prüfen zu können, ob der Kauf des Buches notwendig ist. Die Fragen zielen auf das Selbstbild und Selbstverständnis der Leserin in Bezug auf ihr Verhalten, ihre Interessen, gesellschaftliche Rolle, religiöse Überzeugungen und Sexualität. Kann sie alle Fragen beantworten, wird ihr vom Kauf des Buches abgeraten.

Auf den restlichen 247 Seiten folgt ein zwanzig Fragen umfassender Multiple-Choice-Quiz rund um das Thema Selbst. Der Autor stammt aus dem jüdisch-christlichen Kulturkreis und seine Beispiele zielen auf die Fernsehgesellschaft am Ende des letzten Jahrhunderts. Andere Kulturen bezieht er zwar mit ein, aber stets betrachtet durch die Brille der jüdisch-christlichen, die ihrerseits die säkulare, aufgeklärte, verwissenschaftlichte, westliche Kultur unserer Zeit hervorbrachte.

Walker Percy holt die Leserinnen quasi am Fernseher ab. Viele seiner Beispiele orientieren sich an populären Sendungen im amerikanischen Fernsehen. Was fasziniert unser Selbst, an dem immer wiederkehrenden Motiv, dass jemand sein Gedächtnis verliert, dass Zwillinge verwechselt werden? Was sagt die verbreitete Scheu aus, auf eine Party zu gehen, auf der man niemanden kennt? Welche Schlüsse folgen aus der ungeheuren Vielzahl sexueller Praktiken, die rein gar nichts mit Fortpflanzung zu tun haben? Warum erschrecken wir, wenn wir uns selbst das erste Mal in einem Film sehen? Warum sind wir uns auf einem zwanzig Jahre alten Foto, auf dem wir in unserer Lieblingshose posieren, so fremd? Die möglichen Antworten nimmt Walker Percy wiederum aus dem Ideengut, das uns Tag für Tag in den Medien umflutet. Er stellt gegenüber, welche Antworten uns Wissenschaft, Religion oder der gesunde Menschenverstand anbieten, wobei er feinsinnig Spannungen und Widersprüche aufdeckt, die er humorvoll in kleine Geschichten verpackt. Allein indem er widersprüchliche Antworten gleichwertig hintereinander aufzählt, belegt Walker Percy seine These: Menschen verstehen von allem, was es im Kosmos gibt, sich selbst am wenigsten. Sie haben keine Chance dauerhaft zu ihrem Selbst zu finden.

Der Autor behauptet allerdings nie, er wüsste, welches die richtige oder wenigstens bessere Antwort auf eine seiner Fragen ist. Am Ende der Auswahl von Antworten folgt stets die Aufforderung an die Leserin, die für sie richtige auszuwählen, manchmal auch, eigene Antworten zu ergänzen.

Eingebettet in den Zwanzig-Fragen-Quiz ist eine Einführung in die Semiotik** in Anlehnung an die Arbeiten von Charles Sanders Peirce und Ferdinand de Saussure. Obwohl der Autor seine Ideen mittels einfacher Beispiele und Diagramme leicht verständlich entwickelt, schränkt er ein, dass diese Einführung für manche Adressatinnen seines Buches zu wissenschaftlich und für andere zu unwissenschaftlich sei, und daher ungelesen übersprungen werden könne. Wer diesem Rat folgt, verpasst eine genial einfache und einleuchtende Erörterung, warum es einem Individuum nicht möglich ist, sein Selbst begrifflich zu erfassen.

Walker Percy unterscheidet klar zwischen Menschen und allen anderen uns bekannten Lebewesen, indem er auch den intelligentesten Tieren maximal die Fähigkeit zuerkennt, Zeichen austauschen zu können. Die Zeichen lösen zwar logisch nachvollziehbare Reaktionen aus, das Zeichen hat aber für das sendende oder empfangende Tier noch keine Bedeutung. Erst wenn das Zeichen eine Bedeutung bekommt, die losgelöst vom Zeichen existiert, entsteht Sprache.

Die Nutzung von Sprache führt dazu, dass jeder Mensch in einer und zwar seiner eigenen Welt lebt, die sich nicht mit der von Walker Percy als Umwelt bezeichneten Welt deckt. Wie es in der Welt eines Menschen Zeichen-Bedeutungs-Paare geben kann, die es in der Umwelt nicht gibt, als Beispiel werden Einhörner genannt, so kann es in der Umwelt Zeichen-Bedeutungs-Paare geben, die es in der Welt eines Menschen nicht gibt. Als Beispiel dient die von Menschen nicht wahrnehmbare und den wenigsten bewusste kosmische Strahlung. Dennoch ist die Welt eines Menschen immer vollständig, selbst da, wo etwas fehlt, belegt der Mensch es mit dem Begriff Lücke. Nur wenn er sich selbst beschreiben muss, gehen ihm die Worte aus. Zu dem Zeichen Selbst gibt es keine befriedigende Bedeutung. Obwohl er doch sein ganzes Leben mit sich verbracht hat, kann er sich selbst nicht begrifflich festlegen. So wie ein Mensch sich nicht selbst in die Augen schauen kann, kann er nicht beschreiben, wer oder was er in seiner Welt ist. Er ist "lost in the cosmos".

Der starke Bezug zur amerikanischen Kultur und die konkrete Nennung berühmter Größen der amerikanischen Öffentlichkeit stellen für den deutschen Leser eine Hürde dar, die aber nicht unüberwindbar ist, da die Formate deutscher Fernsehsendungen den amerikanischen ähneln und viele der genannten Persönlichkeiten international bekannt sind oder so beschrieben sind, dass es leicht fällt, eine entsprechende Berühmtheit im deutschen Fernsehen zu finden.

Eine zweite Hürde stellt das Alter des Buches dar. Obwohl die Ideen weit über den Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinausreichen, erscheint ihre Erörterung durch die Beispiele, die vor 30 Jahren aktuell waren, mittlerweile verstaubt. Wer kennt in Deutschland „The Phil Donahue Show“, wer erinnert sich noch an John Wayne. Der kalte Krieg schwindet langsam aus der kollektiven Erinnerung. Die Leserin kann mutmaßen, dass das Buch, wäre es heute erschienen, Bezug auf aktuellere Themen genommen hätte. Was damals die Ermordung des Präsidenten Kennedy, die Bedeutung von Radio- und Fernsehsendern oder die Bedrohung durch hoch gerüstete Staaten war, würde heute durch den Anschlag auf das World Trade Center, durch die Bedeutung des Internets oder durch die Folgen globaler Klimaveränderungen ergänzt oder ersetzt werden.

Das Buch ist in leicht verständlichem amerikanischen Englisch geschrieben und ist jeder zu empfehlen, die sich für ihr Selbst und für die amerikanische Gesellschaft am Ende des letzten Jahrhunderts interessiert.

*) Werden im Text sprachlich vereinfachende Bezeichnungen wie "Leserin, Käuferin" etc. verwendet, beziehen diese sich auf Frauen und Männer in gleicher Weise.

**) Semiotik ist die allgemeine Theorie vom Wesen, der Entstehung und dem Gebrauch von Zeichen, siehe  http://de.wikipedia.org/wiki/Semiotik.
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