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Zentrales Besprechungsorgan von keinVerlag.de Ausgabe 162/2008 - Fr., 5. Sep 2008
Multiples Erzählen
Angeloch, Dominic: Blinder Passagier. Ein Roman in vier Erzählungen. Berlin (Verlagshaus J. Frank), 2008 - Eine Rezension von Bergmann

Bibliografische Daten:
Verlag: Verlagshaus J. Frank
Ort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2008
Preis: 13,90 Euro
ISBN: 3940249114

Figuren, die sich streifen; sich suchen, ohne einander zu finden. Träume; Alptraumszenarien; eine Beziehung, die im Mittelpunkt zu schweben scheint. Der richtige Moment und der Moment, an dem man sich hätte treffen können und verpaßt hat. Und immer wieder der Versuch, sich zu erinnern, wie es vielleicht war oder hätte gewesen sein können. Dominic Angelochs Debüt Blinder Passagier ist ein faszinierendes Versteckspiel, das seinen Leser dazu auffordert, die Fäden, die in vier scheinbar disparaten Erzählungen ausgelegt werden, aufzunehmen und in einem Roman-Ganzen zusammenzuführen. In diesem Versuch geraten jedoch alsbald Ungereimtheiten in den Blick, die sich dem aufmerksamen Leser gleichsam unter der Hand zu Widersprüchen zuspitzen – bis er zu ahnen beginnt, daß er wieder auf eine falsche Fährte gelockt worden ist. Wie die Protagonisten einander suchen und verfehlen, sucht der Leser den Text und verfehlt ihn wie in einem Vexierbild immer wieder – Es sei denn, es gelingt dem Leser, den Text zu seinem Komplizen zu machen. Wie das vonstatten gehen soll? Das überläßt dieses Buch je und je seinem Leser. Einzig die Erinnerung ist imstande, den Bann zu lösen. Und dann, am Ende, ist es vielleicht so, wie es Felisberto Hernández einmal beschrieben hat: „Als ich an einem Abend begann, mich zu erinnern und ein anderer zu sein, sah ich mein vergangenes Leben wie in einem Nebenzimmer.“
Wohin gehen wir? Immer nach Hause. Novalis, Heinrich von Ofterdingen

Dominic Angelochs „Roman in vier Erzählungen“, Der blinde Passagier, ist die Diagnose eines Persönlichkeitszerfalls in einer Welt, in der wir weder uns selbst noch jemand anderen noch ein Zuhause finden. Das Motto des dem Vater gewidmeten Buchs – Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs – weist hin auf die Macht der Einflüsse, die uns erdrücken können; mit solchen Felsen im Kopf geht keiner leicht durchs Leben, auch nicht in Gedanken. Schon der Titel ist metaphorisch gemeint. Der blinde Passagier ist jeder von uns auf seiner Lebensreise, und er kommt in jeder der vier Erzählungen, die man auch Gedanken-Kapitel nennen kann, vor. In diesem Bild wiederholt sich der Determinismus unseres Seins: Den felsenschweren Prägungen folgt eine Lebensreise, aber wir fahren nicht, sondern werden gefahren, wir sind unbekannt und wollen oder können nicht bezahlen, nicht einstehen für unser Handeln und Nichthandeln. So eine Reise scheitert, sie führt in die Katastrophe.

Das erste ‚Kapitel’, „Selbstporträt im Restaurant mit Mantel und Kellner“, ist eine verkappte Ich-Erzählung. Sie zeigt einen Erzähler, der den Leser oder sich selbst mit du anredet und so sein Ich im allgemeinen Du (man) tarnt. Seine Gedanken sind kursiv gesetzt. Diese Idee erinnert an Frederic Beigbeder’s ‚Roman’ „99 francs“ (deutsch „39,90“) – Ich, du, er, wir, ihr, sie ist dort die Reihenfolge der Erzählperspektiven. Angelochs namenloser ‚Held’ in der ersten Erzählung kann sich selbst nicht ansprechen, weil er sich nicht findet. Zwar sieht er sich im Spiegel, aber er erkennt sich nicht darin. Ihm gelingt eben kein Selbstporträt! Er bleibt nur in Gedanken bei sich und ist darin einsam und verloren. Es kommt sogar zu einem Bewusstseinsausfall, ein Gehirnkurzschluss zeigt die Leere des Erfahrenen und Gedachten. System failure. Die Szene ist fast absurd – ein Bild auf die Leere unseres Alltags und des Lebens: Noch nicht einmal das Essen gelingt. Wir sind allein, Kommunikation gelingt nicht. Wir bleiben in der Ungewissheit unseres körpersprachlichen Schweigens stecken (die Frau mit der Handtasche). – Das Spiel mit den Erzählperspektiven ist beachtlich und durchaus humorvoll – etwa wenn sich der Du-Erzähler bei der Darstellung des Hirnkollaps von den Gedanken seines Helden, der sich eigentlich selbst erzählt, helfen lässt („... und du – schwebst ein Stück darüber!)“ und nach diesem „Sternsterben“ schließlich auf zwei leeren Seiten ganz schweigt...

„Chimären“: Das zweite ‚Kapitel’ erzählt von Victor Kramer. Ist diese Figur neu oder ist sie der Held des misslungenen Selbstporträts? Nach diesem Schein-Anschluss haben wir es mit einem auktorialen Erzähler zu tun. Das Thema ist wieder die Realität. Der Erzähler Angeloch spielt mit anderen literarischen Formen: Auf einmal kommt action auf, Cramer wird entführt. Dann folgen verschiedene Bewusstseinszustände, die um einen Traum herum gruppiert sind, alles Schattierungen, Möglichkeiten einer Unendlichkeitsrealität. Dann Horrorversatzstücke, comic-artige Bezüge. Humorvoll wird das unbehauste Leben von Cramer-Ahasver erzählerisch reflektiert. Begegnet sich Cramer in dem Hoteljungen, der dann doch keiner ist? Ist das Hotel, in dem er wohnt, das Haus seiner Erinnerungen und Spiegel seines unbehausten Lebens? Er kann sich wieder nicht fassen, auch nicht in dem Traum im ‚Traum’ des ganzen ‚Kapitels’. Eine gläserne Barriere wie in Marlies Haushofers Roman „Die Wand“ steht zwischen ihm und sich selbst. Dann jagen Schatten andere Schatten wie in Platons Höhlengleichnis. Zuletzt will er sich selbst umarmen, also finden und liebend annehmen, das klappt auch nicht. Er sucht das Meer, die Weite, er hat so eine Ahnung von romantischer Ferne, aber er erreicht sie nicht, genauso wenig wie die Schamlippen einer Frau, „die sich ihm entgegenzuwölben schienen“. Da blitzt wieder der Humor des Autors durch, indem er andere literarische Genres inkorporiert. Oder das Schiff, diese barocke Metapher für das Leben – das kommt auch vor in den Gedanken Cramers, in seiner Sehnsucht nach dem Meer, nach Schicksal, er will dem Zufall trotzen, er will Sinn für sein Leben. Der Leser wartet auf Informationen über Cramer, wo kommt er her, was macht er beruflich, und hofft, die Zusammenhänge besser zu verstehen. Aber er wird enttäuscht und merkt es nur noch nicht, weil er sich inzwischen selbst eine vorläufige Story bastelt, um weiterlesen zu können, um ein Fundament zu haben. Aber das wird immer instabiler. Angeloch schreibt kein analytisches Drama à la Ödipus.

Die titelgebende dritte Erzählung „Blinder Passagier“ zeigt wieder Cramer, und jetzt atmet der Leser auf: Die Handlung kommt in Gang, er fasst Tritt, jetzt passiert etwas, das er versteht: Ein Ehedrama in den letzten Szenen. Cramer wartet auf einer spanischen Atlantikinsel auf seine Frau, um sich mit ihr vielleicht wieder zu vertragen. Aber Marie kommt nicht. Dann Wechsel der Erzählperspektive – jetzt ist der Leser schon wieder irritiert, weil er nicht gleich kapiert, dass Marie die Erzählerin ist. Marie war da, aber Cramer sah sie nicht. Das ist metaphorisch gemeint, sagt sich der Leser. Cramer lebt neben Marie her und sieht sie nicht, spürt sie nicht, gibt ihr keine Nähe usw. Ist seine Frau der blinde Passagier? Offenbar. Wir Menschen verstehen uns nicht und bewegen uns auf unserem Lebens-Schiff (!) wie blinde Passagiere. Gut, nicht alle, aber in dieser Geschichte ist es so. Im dritten Teil der dritten Erzählung wird Cramer wieder zum Erzähler. Aber der Leser ist bald wieder verwirrt: Erst ist Marie nicht da, dann völlig unvermittelt doch (S 64), und auf einmal sind wir alle auf der Titanic! Will der Autor lustig sein, oder erleben wir hier nur einen Zeitsprung (zurück oder vor?)? Die Action-Soap bringt eine neue Figur: Pablo. Aber den Namen erfährt der Leser (natürlich) erst später. Der Autor narrt ihn. Der Leser wird zum Suchenden, wie Victor Cramer, die Ironie des Namens gilt auch ihm. Der Leser ist der eigentliche blinde Passagier – in diesem Roman-Wrack. Im vierten Teil der dritten Erzählung taucht ein Ich-Erzähler auf, wahrscheinlich ist das Cramer, der wieder wartet, nun aber auf die Marie des dritten Teils... Oder?

Der Roman-Torso endet in einem furiosen Fiasko des völlig verwirrten Lesers: Der Titel der vierten und letzten Erzählung heißt: „Aufzeichnungen aus einer verlassenen Wohnung.“ Die Handlung wird immer wilder. Actionism. Wer erzählt hier überhaupt, wer ist dieses Ich? Marie, denke ich nach einer Weile, weil der Matrose Pablo aus der dritten Erzählung erwähnt wird. Umkehrung: Jetzt sieht Marie Victor nicht. Was soll das? Ist das ein Symmetriespiel? Es ist nützlich, jetzt schon einmal die letzte Seite zu lesen: Aha, Pablo und Maria gehören zusammen... Aber ob das auch stimmt? Dieses Ende ist kein Ende. Was ist es dann? Es folgen gewaltsame Handlungen – ich denke, es sind schizophrene Vorstellungen und Projektionen. Erst das Haus, in dem Marie wohnt (oder doch Victor?), dann die Straße, das Viertel, zuletzt die ganze Stadt im Wahnsinn! Sie alle beobachten, bedrohen, bedrängen Marie (oder Victor) in der Wohnung. Die Wohnung wird zur Festung. Wieder ein Bild für den Zustand des Menschen unserer Zeit: Der Behauste ist unbehaust, er ist allein und einsam, er wird bedroht von seinen Mitmenschen und lebt in fortwährender Angst um sein Leben. Dieses ganze pathologische Geschehen ist so unrealistisch, so künstlich surrealisiert, dass der Leser sich fragt, was er sich noch fragen soll. Da kommt keine Sinnfrage mehr auf. Das absichtliche Scheitern des Romans wird zum Scheitern des Lesers, wenn er nicht durchschaut, dass er scheitern soll. Die Zerstörung üblicher Romanschemata soll zum ‚richtigen’ Roman im Leser führen, zu der Erkenntnis: Es gibt keinen Roman, der nicht unendlich sein müsste. Einen Roman kannst du nur selbst leben, aber du scheiterst, wenn du dein Leben wie einen Roman liest und verstehen willst. Es gibt keinen Roman, weil es ein verstehbares Lebenskontinuum, eingebettet in einen Kausalnexus, nicht gibt, nicht geben kann. Es gibt auch kein solches Leben! – So gesehen schrieb Angeloch einen Anti-Roman im Geist der neuen Physik, eine literarische Gleichung der Absurdität unseres Seins. Schade, Schrödingers Katze lief nicht durch die Matrix seiner erzählenden Zeilen – das wäre ein witziges Surplus des realen Surrealismus gewesen...

Fazit: Angeloch nennt seinen Zyklus von vier Erzählungen einen Roman, und dies nicht etwa ironisch. Vier blinde Passagiere machen noch kein Schiff, denkt der Leser konventioneller Romane, dafür ist ihm das Ganze zu kurz und hängt erzählerisch zu wenig zusammen. Aber genau das ist die Absicht. Angeloch stellt den Kausalnexus gewöhnlicher Romane in Frage. Das Erzählen bleibt, aber die Struktur des Erzählens wird, trotz der Kürze im Vergleich zu einem Roman, derart komplex, dass die Einheit des Erzählten aufgehoben wird in einem Multiperspektivismus, der die Existenz fester Realitäten (oder Wahrheiten) nicht mehr zulässt. Angeloch widerlegt den herkömmlichen Roman – auch den nouveau roman –, ohne auf den Roman-Begriff und partiell herkömmliches Erzählen zu verzichten. Dabei kommt es zu einer starken Erweiterung des Roman-Begriffs.
Was ist spannender? Die Schreibtechnik oder der Gang der Handlung? Natürlich gehört beides zusammen, auch bei Angelochs „Roman in vier Erzählungen“, und doch ist die Form so betont, dass der Leser sie nicht aus dem Auge lassen darf, wenn er die vier Erzählungen als ein Ganzes verstehen will, wenn er das überhaupt will oder kann. Denn das ist nicht leicht wegen der abschließenden Erzählung, in der alle Zusammenhänge, die der Leser zuvor (re)konstruierte, noch mehr aus den Fugen gerät. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Es gibt unendlich viele Wahrheiten, wie es Möglichkeiten gibt, aber diese sind nicht darstellbar. Der Autor weist auf die Unmöglichkeit eines stimmigen Handlungszusammenhangs hin, analog gibt es auch keine stimmige Interpretation, sondern unendlich viele.
Wir können nicht leben, ohne uns und die Welt zu interpretieren. Angeloch zeigt, dass der Mensch an sich und der Welt zerbricht, wenn es ihm nicht gelingt, sich und die Welt wie auch immer zu verstehen. So gesehen ist sein Roman, der auf Grund seiner Struktur gar keiner sein kann, eine Parabel für die Unmöglichkeit eines stimmigen Lebens. Es gibt keinen wirklichen Sinn des Lebens. Im Bild des Wahnsinns, in dem sowohl Victor (Sieger!?) Cramer (Sucher) als auch Marie (die dem Meer Entsprossene) versinkt, zeigt sich die Pathologie unseres Seins.

Dies zu zeigen, gelingt Dominic Angeloch mit einer einfallsreichen und sicheren Sprache, die das Konkrete so formuliert, dass es im Begrifflichen wieder zerfließt, und umgekehrt. Die Dinge der Welt sind nicht fassbar, nicht gültig definierbar. Die Sprache kann mit Bildern, wie Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus meinte, eine Leiter ans Leben stellen, auf der wir vielleicht zu einer Ahnung von Erkenntnis klettern können, mehr aber nicht. Angelochs Bilder und die Erzählstruktur sind im Hinblick auf seine philosophierende Bewegung leicht und subtil zugleich. Eine derartige Gedankenerzählung ist spannend!

Ich wünschte mir nur, dass der Autor den Weg zu einer noch ausführlicheren und damit noch genaueren Erzählweise findet: Die Personen und ihre Verhältnisse sollten noch sinnlicher dargestellt werden, ohne die Beweisführung in Gedankenbildern zu verraten. Ganz leicht fiel mir das Lesen und Interpretieren nicht. Der Autor sollte sich fragen, ob alle intellektuellen Leser so viel Lust haben, den „Roman in vier Erzählungen“ zu ihrem (Leser-)Roman zu machen. Sich einen Roman in der Art der „Wahlverwandtschaften“, „Homo Fabers“ oder der „Elementarteilchen“ anzueignen – von „Doktor Faustus“ und „Ulysses“ einmal abgesehen – ist schon anstrengend genug. Nicht jeder Leser will beim Lesen ein Herkules sein. Zum Glück ist Angelochs Roman-Torso nur eine kleine Hydra.

Ulrich Bergmann,
Intragna 23.7.2008
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