Bibliografische Daten:
Verlag: Springer Fachmedien
Ort: Wiesbaden
Erscheinungsjahr: 2025
Preis: 27,99 Euro
ISBN: 978-3-65846118-8
Weimer stellt in 55 Kapiteln Fragen zu beliebten Diskussionsthemen aus der Antike, die er auf ihre Quellen befragt, um herauszufinden, wie nahe oder fern sie uns heute sind.
Fragen an die Antike ist ein ungewöhnlich kreatives Buch. Ich habe vorher noch nie eines mit zwei Vorworten gelesen. Die Veröffentlichung beginnt mit einem ironischen Vorwort.
Weimer stellt sich darin die Frage, was ein Abiturient, der Französisch als zweite Fremdsprache gewählt hat, BWL studiert und sich auf Werbung spezialisiert hat, heute über die Antike weiß. Er führt sich das triefend ironisch anhand fiktiver Quiz-Fragen vor Augen, zum Beispiel
„Ein bedeutender antiker König und Feldherr hieß Alexander:
· der Kleine?
· der Mittlere?
· der Große?“
oder
Ein berühmter Krieg in der griechischen Mythologie handelt von dem Kampf um:
·Troja
·Rom
·Paris.
Er vermutet weiter, dass seine Testperson zu einer tieferen Deutung von Gestalten wie Antigone, Orpheus oder Ödipus nicht in der Lage wäre. Es sei vermessen, den Abiturienten nach antiken Autoren zu fragen. Aber vielleicht habe er schon einmal die Namen Homer und Odysseus gehört.
Müsse man mehr über die Antike wissen? Wer Shakespeare, Goethe, Schiller oder Joyce verstehen will, ja, aber wer liest die schon?
Ein „Ernstes Vorwort“ schließt sich an. Es beginnt mit der Erkenntnis, dass die Antike nicht mehr populär ist. Freilich halten sich einige spannende Mythen und historische Ereignisse in der Allgemeinbildung, etwa über Homers Troja, über die Amazonen, den Spartacus-Aufstand oder die Ermordung Caesars.
Weimer überlegt, welche Themen aus der Antike bis in die Gegenwart überdauert haben. Einige dieser Themen will er auf ihre Quellen überprüfen, um festzustellen, inwieweit sie sich mit den heutigen Ansichten über sie decken oder nicht. Er erhofft sich aus dieser Gegenüberstellung eine Belebung des Interesses an der Antike. Damit ergibt sich das Thema des Buches. Welche Bedeutung haben die von ihm ausgewählten Themen für die Beschäftigung mit der Antike heute noch? Eine Antwort ist, dass die Tradtion der Antike uns entscheidend geprägt hat. Eine andere, dass das Anderssein der Antike uns unsere heutige Identität bewusst macht. Weimer folgert aus dieser Betrachtung, dass die Antike uns zugleich nahe und fremd ist, nahe, weil wir aus ihr stammen, und fremd, weil wir uns ein eigenes Bewusstsein geschaffen haben.
Wir schauen auf das Inhaltsverzeichnis, um zu sehen, welche Themen Weimer auf ihre Quellen untersuchen will, um uns die Antike näher zu bringen. Dabei fällt auf, dass die Themen ohne verbindende Kriterien hintereinander gestellt sind und dass es den Lesern überlassen wird, eine Reihenfolge ihrer Lektüre herzustellen. Ich hätte versucht, die Themen nach übergeordneten Gesichtspunkten zu ordnen. Hier einige Beispiele: Zunächst hätte ich alle Kapitel rund um Achill, Sokrates, Hannibal, Caesar und Nero zusammengefasst. In dem Kapitel „Frauen in der Antike“ hätten sich diese Überschriften Weimers wiedergefunden: „Amazonen – Gab es ein Volk aus Kriegerinnen?“, „War Sappho lesbisch?“, „Dionysos und Ariadne“, „Starke Frauen im Patriarchat ...“, „Der Tod der Kleopatra“, „Warum prophezeite Kassandra nur Unheil?“, „Elephantis - Eine pornographische Autorin aus der Antike“, „Gab es Gladiatorinnen?“. Ein Kapitel hätte sich mit dem Politikverständnis in der Antike befasst: „Haben die Griechen die Demokratie erfunden?“, „Catos 'Ceterum censeo'“, „Vare, Vare, redde legiones“, „Die 300 Spartaner bei den Thermopylen“, „Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor“, „Spartacus, ein Sklave revoltiert“, „Der Pyrrhus-Sieg“.
Andere Kapitel ließen sich unter dem Stichwort Religion zusammenfassen: „In hoc signo vinces“? - "Was hat Kaiser Konstantin wo am Himmel gesehen?“, „Der Exodus aus nichtbiblischer Sicht“, „Jesus aus nichtbiblischer Sicht“, „Das Faß, nicht die Büchse der Pandora“, „Das Regenwunder des Marc Aurel“, „Märtyrer – eine christliche Besonderheit“, „Deukalion und die Sintflut“, "Typhon, der Teufel in der Antike“.
Wir erwähnen abschließend noch den Aspekt Dichtung, um zu zeigen, dass sich Weimers Kapitel unter zusammenfassenden Kriterien subsumieren lassen: „Das Urteil des Paris und der Apfel der Eris 'Der Schönsten'“, „Wer hat Ödipus die Füße durchbohrt?“, „Das Trojanische Pferd und sein Erbauer“, „ Singen Schwäne beim Sterben?“, "Pegasos – ein Musenpferd?"
Anhand eines Kapitels möchte ich beispielhaft demonstrieren, wie Weimer bei seinem Studium der Quellen vorgeht, um zu erfahren, wie sich in ihrem Lichte unser heutiges Verständnis antiker Überlieferung als nah oder fern erweist. Wir betrachten das Kapitel “Haben die Griechen die Demokratie erfunden?" Weimer nimmt das Ergebnis vorweg: Die Griechen haben unter Demokratie nicht annähernd das Gleiche verstanden wie wir. An der Demokratie in Athen zum Beispiel konnten Frauen, Sklaven und Männer von auswärts, die keine attischen Bürgerrechte besaßen, sog. Metoiken, nicht teilnehmen. Die Demokratie in Athen bezieht sich also nur auf eine Minderheit männlicher, freier Vollbürger.
Zwei Schlagworte sind für die Erfassung griechischer Demokratie entscheidend, nämlich Isonomie (Gleichheit der bürgerlichen Rechte und Freiheiten) und Isegorie (gleiche Freiheit und gleiches Recht für öffentliche Rede und Abstimmung) für männliche Vollbürger. „Von diesen gab es 30.000 bis 50.000 von einer Gesamtbevölkerung von 250.000 bis 300.000 Menschen in Attika.“ (Weimer, Fragen an die Antike, S. 312)
Weimers wichtigste Quellen über die Entstehung und Struktur der attischen Demokratie sind Herodots Historien und Aristoteles, Der Staat der Athener. Er berichtet, dass die Demokratie aus der Phylenreform des Kleisthenes entstanden ist. Der geniale Einfall bestand darin, Bürger, die relativ nahe beieinander wohnten, unterschiedlichen Phylen (Stämmen) zuzuordnen. Damit wurden sie der Einflussnahme adliger Großgrundbesitzer entzogen, die ihre ökonomische Macht nicht mehr politisch umsetzen konnten. Zur Demokratisierung Athens trugen auf ein Jahr befristete und kollegiale Ämter bei, die besoldet wurden. Jeder Bürger hatte das Recht und die Möglichkeit, so ein Amt auszuüben.
Das sog. Scherbengericht (Ostrakismos) wirkte den Versuchen Einzelner entgegen, Demokratie durch zu viel Machtaneignung zu gefährden. Bei dieser jährlichen Abstimmung wurde der, dessen Name über ein Limit hinaus auf eine Scherbe geschrieben wurde, für zehn Jahre ohne Verlust seines Vermögens ins Exil geschickt.
„Dass jedes Jahr 500 Bürger in den Rat der 500 gelangten...., zeigt übrigens, dass bei einer Zahl von etwa 30.000 Bürgern ein ziemlich großer Teil von ihnen einmal im Leben politische Verantwortung trug. Hinzu kamen noch die Volksversammlung (Ekklesia) und ein Volksgericht (Heliaia) mit insgesamt 6000 Geschworenen.“ (Weimer, Fragen an die Antike, S. 315)
Die attische Demokratie verdient nach Weimer ihren Namen nicht, wenn man darunter die Herrschaft aller Einwohner versteht, als Herrschaft aller Bürger war sie aber eine direkte, unmittelbare Demokratie.
Dennoch erwähnt Weimer einige bedenkliche Aspekte dieser Herrschaftsform:
·die Finanzierung der Demokratie Athens durch andere Städte und Inseln
· das Fehlen von Grund- und Menschenrechten im heutigen Sinne
· es gab keine Gewaltenteilung
· ebenso fehlte eine indirekte bzw. repräsentative Demokratie
· die durch Konkurrenkampf und Unterdrückung anderer Städte bedingte kriegerische Tendenz
· die Demagogie in der Volksversammlung.
Anders als in westlichen Demokratien heute war diese Regierungsform bei den Griechen nicht sakrosankt. Weimer erwähnt utopische Gegenentwürfe Platons und befasst sich eingehend mit der Mischverfassung, die freilich nur für alle Bürger galt. Schon Herodot erwähnte, dass am Hofe des persischen Großkönigs Dareios die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Herrschaftsformen diskutiert wurden. Der Grundgedanke der Mischverfassung sei, die Vorzüge unterschiedlicher Regierungsformen zu kombinieren. Aristoteles habe bei seinem Konzept der Mischverfassung auch daran gedacht, dass diese den Verfallsformen der Monarchie zur Tyrannis, der Aristokratie zur Oligarchie und der Demokratie zur Ochlokratie vorbeuge.
Die Vorzüge der Mischverfassung liegen zumindest theoretisch auf der Hand, das monarchische Element für schnelle und eindeutige Entscheidungen, das aristokratische Element für die Sachkenntnis von Kundigen und das demokratische, um sich des Einverständnisses möglichst vieler Menschen zu versichern. (Vgl.Weimer, S. 317 f.)
Weimer reflektiert, wie demokratische Staaten heute im Sinne der Mischverfassung Gefährdungen der Demokratie entgegenwirken. Er erwähnt den Föderalismus, die Gewaltenteilung in gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt sowie die Menschenrechte.
Er lässt die Frage offen, ob geheime Wahlen ausreichen, um wie bei der Phylenreform die Einwirkung ökonomischer Macht auf politische Entscheidungen zu verhindern.
Abschließend noch eine Anmerkung zu Weimers Umgang mit den Quellen. Er ist in dieser Hinsicht ungemein gründlich und genau. So hat er in jedem Kapitel nicht nur die primären, sondern auch spätere Quellen bis in die Spätantike geprüft, sodass in etlichen Kapiteln auch divergierende Aussagen zu dem jeweiligen Thema erscheinen.
Nach 55 lehrreichen und unterhaltsamen Kapiteln lässt Weimer seine Leser noch nicht los, denn es scheint, dass seinen Fragen an die Antike keine Grenzen gesetzt sind. Ich nenne beispielhaft einige dieser Fragen:
"Wie weit darf man in seiner Rache gehen?- Homer in der Ilias · Kann man völlig unschuldig schuldig werden? Sophokles und sein „König Ödipus“
· Gibt es ein natürliches Recht, das über dem steht, was der Staat für Recht erklärt? - Sophokles und seine „Antigone“
· Kann man ein extremes Verbrechen wie den Mord an den eigenen Kindern verstehen? - Euripides und seine „Medea“
· Was geschieht mit einem Menschen, der über absolute Macht verfügt? - Die römischen Kaiser und der Größenwahn
· Gibt es jenseits der materiellen Welt eine geistige? Die Frage Platons."
In Analogie zu dem doppelten Vorwort werden die Leser nicht ohne zwei Nachworte entlassen.
In einem „Hoffnungsvollen Vorwort“ geht Weimer am Beispiel des anscheinend unlösbaren Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern der Frage nach, inwieweit gegenwärtige Probleme ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben bis hin zu der Tatsache, dass das jüdische Volk schon in der Antike oft verfolgt wurde. (Fragen an die Antike, S.393) Er versucht sowohl die Idee Europas als auch seiner speziellen Kultur und Wertvorstellungen aus der Antike zu verstehen. „Sie ist männlich, sie ist auf Wettstreit und Ruhm angelegt, sie beruht auf Unterdrückung (von Besiegten, Sklaven und Frauen), sie hat eine Sphäre der Götter über sich, welche sich selbst im Kampf bewähren müssen und auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Aber die Antike überliefert uns auch Alternativen zu all dem, die in bestimmten Frauen bestehen, in einem Gott, der eine menschliche Frau hingebungsvoll liebt [Dionysos und Ariadne, E.M.], in der Idee der Demokratie […] - vor allem in der Idee des kritischen, prüfenden Denkens […]. Diese Prüfung kann in logischem Denken erfolgen oder auch darin, dass man nachschaut, wie es wirklich in den Texten steht.“ (Weimer, S. 394).
Am Ende steht Weimers Frage, was die Beschäftgung mit der Antike bringen kann. Natürlich nichts denen, die auf die Gegenwart fixiert sind, aber sehr viel jenen, die die Gegenwart aus der Distanz der Antike reflektieren. In einem „Hoffnungslosen Nachwort“ räumt Weimer ein, das ihm sicherlich Fehler unterlaufen seien und erwähnt sein Kapitel „Errare humanum est (Irren ist menschlich). Der Rezensent überlässt es gerne anderen, solche Irrtümer zu entdecken. Er hat aus Weimers Buch viel Neues über die Antike und seine Gegenwart erfahren und schätzt das besprochene Werk sehr wegen seiner Kreativität und des sorgfältigen Studiums der antiken Quellen.